Nadine … und das zerknüllte Papier

Ihr kennt es alle: Ihr nehmt ein Papier und zerknüllt es, immer wieder, ganz fest. Man erkennt kaum noch, was mal darauf stand. Es wieder auseinanderzunehmen, geschieht nur langsam und vorsichtig. Es ist wieder gerade, aber mit Falten und kleinen Rissen. Doch man kann wieder darauf schreiben. So erlebe ich oft die Begegnungen in meinem Leben.

Ich erlebe Menschen, die sich selbst, durch negative Erfahrungen so sehr „zusammengeknüllt“ haben: aus Schutz, aus Angst, den Rissen, die beim Entfalten entstehen, ehrlich zu begegnen.

Das zusammengedrückte Papier gibt das Gefühl von Sicherheit, genau wie eine warme Decke. Ich diente dabei oft in Begegnungen als Schutz, war der Anker. „Berührungen“ kamen nicht an, zu fest zusammengerollt, das emotionale Innenleben war zu. Bis ich irgendwann selbst keine Luft mehr bekam. Die Angst meines Gegenübers vor kleinen Rissen war zu groß.

Dann begegnete ich Menschen, die Macher waren, das komplette Gegenteil. Tausende Ideen, Ziele, Visionen. Doch innerlich und äußerlich so voller Chaos, dass auch daraus ein zerknülltes Papier wurde. Überladen mit Dingen, mit Aufgaben, ganz viel Druck, ja, und auch Angst.

Trotzdem immer wieder dieser Hilfeschrei:

„Hilf mir, tu was, mach! Siehst du mich denn nicht? Du bist da, um mich zu retten, du musst mein selbstgemachtes Chaos entwirren. Glätte uns wieder!“  Doch bin ich als Lebensmanagerin geboren? Wer kann diese aufgebürdete Last komplett tragen? Niemand.

Und niemand ist das „Beziehungsprojekt“.

Chaos dient in diesem Fall als Spiegel der Seele, ohne Interesse, das Blatt Papier zu entwirren, um eine entspanntere, vielleicht viel schönere Geschichte zu schreiben. Oder die bereits geschriebene Geschichte so anzunehmen wie sie ist, um daraus zu wachsen, um dadurch vielleicht auch Neues entstehen zu lassen.

Dann gibt es die Menschen, bei denen das Papier noch nicht komplett zerknüllt ist.

Die, die sich nicht klar entscheiden, sich zu öffnen und zu glätten, und sich direkt wieder verschließen. Sie öffnen sich, um sich kurz blicken zu lassen, und sich sofort wieder zusammenschließen, zurückzuziehen.

Ein Papier, das sich selbst nicht vertraut.

Das nicht wahrhaben will, wie schön ein Blatt sein kann, auf dem man die Schrift, den Text, die eigene Geschichte wieder annimmt. Nein, das muss dringend verschlossen bleiben, aus Angst vor Sichtbarkeit.

Also wie soll man jemanden erreichen, der sich jedes Mal selbst zusammenknüllt, wenn man ihm zu nah kommt?

Was sie alle gemeinsam haben? Sie schreien nach dem Bedürfnis, sich zu entknittern, als sei es ausschließlich der Job von außen, das zu tun. Sich voll reinzuhängen. Sich selbst komplett aufzugeben. Zu retten.

Niemand fragte sich mal:

„Hey, wie geht’s eigentlich dem Papier, das da versucht zu helfen?“

Ich habe meine eigenen Baustellen, einen eigenen „Job“, mein eigenes Papier glatt zu halten. Zu mir kommt auch niemand und entknittert mich. Jemand der sagt: „Ich seh dich. Ich halt dich. Ich helf dir beim Sortieren.“ Vielleicht war gerade Betriebsurlaub in der Abteilung „emotionale Unterstützung“, keine Ahnung oder vielleicht „Bitte nichts geben, nur nehmen.“ Ich merke, gerade, das verfolgt mich irgendwie seit der Kindheit, vielleicht war das damals schon in der Grundausstattung dabei. Stickeralbum optional.

Aber ich schweife ab….

Was ich bekommen habe, war:

„Du stellst dich an.“

„Du übertreibst.“

„Du bist zu wenig verständnisvoll.“

„Du bist nicht richtig, wie du bist.“

Oder ganz subtil: das Gefühl, nicht zu reichen.

Ich finde, jeder darf mal zerknittert sein. Jeder hat seine Risse, seine Ecken, sein Chaos, seine Geschichte. Aber ich bin davon überzeugt, wenn man sich nicht mal selbst in die Hand nimmt, wenn man es sich gemütlich macht, mitten im eigenen Durcheinander und sich dabei noch rettungsbedürftig hinlegt? Dann ist das nicht tragisch, sondern einfach nur bequem, mehr nicht.

Ich bin kein Reißwolf. Kein Bügeleisen. Ich bin ein Mensch. Eine, die sich selbst täglich entwirrt, sortiert, neu ausrichtet.

Weil ich leben will. Ich möchte glücklich sein. Genießen, erleben, atmen können. Ich möchte eine lesbare Schrift in meinem faltigen Papier mit kleinen Rissen und Eselsohren. Das ist schon genug eigene Arbeit. Genug eigenes tägliches Überwinden von Ängsten und Unsicherheiten.

Wer hat das Recht zu sagen, das zerknüllte Papier des Gegenübers sei wichtiger und wertvoller als mein eigenes?

Deshalb bleibe ich, so gut ich es kann, definitiv auseinandergefaltet. Bereit für echte Verbindung. Nicht für tagtägliche Rettungsaktionen, die immer wieder ins Nichts führen, oder in das „mich selbst verlieren“.

Vielleicht begegnet mir ja irgendwann mal jemand, der sich auch selbst auseinandergefaltet hat. Der seine Risse mit Würde trägt. Der seine Geschichte kennt, in sich ruht, und mich nicht braucht, um sich selbst zu finden. Jemanden bei dem ich auch endlich mal loslassen kann.

Bis dahin sortiere ich weiter. In meiner Wohnung. In meinem Herzen. In meinem Leben. Und ich werfe raus, was nicht mehr zu mir gehört. Auch die Geschichten, in denen ich die Heldin für Menschen sein sollte, die nie bereit waren, sich selbst zu retten und ich am Ende doch wieder alleine dastand.

In diesem Sinne

eure Nadine

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